Deutsche Start-ups konnten in der ersten Jahreshälfte 2019 so viel frisches Kapital einsammeln wie nie zuvor in einem Halbjahr. Insgesamt erhielten sie 2,8 Milliarden Euro, 13 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Die Zahl der Finanzierungsrunden stieg im Vergleich zum ersten Halbjahr des Vorjahres sogar um 19 Prozent auf 332.
Der Löwenanteil des investierten Kapitals floss nach Berlin: Start-ups aus der Hauptstadt erhielten im ersten Halbjahr bei 131 Finanzierungsrunden insgesamt 2,1 Milliarden Euro – ein Anstieg um 28 Prozent. Ebenfalls mehr Geld als im Vorjahreszeitraum erhielten nordrhein-westfälische Jungunternehmen (plus 3 Prozent auf 133 Millionen Euro) und Start-ups aus Baden-Württemberg, wo sich das Investitionsvolumen auf 150 Millionen Euro mehr als verdreifachte. Sinkende Zuflüsse verzeichneten hingegen die Standorte Bayern (um 42 Prozent auf 204 Millionen Euro) und Hamburg (um 31 Prozent auf 81 Millionen) – hier machte sich das Fehlen großer Deals bemerkbar, die im Vorjahr noch die Gesamtsumme nach oben getrieben hatten. Immerhin: An allen fünf Top-Standorten in Deutschland wurden mehr Finanzierungsrunden gezählt als im Vorjahreszeitraum.
Das sind Ergebnisse des Start-up-Barometers der Prüfungs- und Beratungsgesellschaft EY (Ernst & Young). Berücksichtigt wurden Unternehmen, deren Gründung höchstens zehn Jahre zurückliegt.
„Der Boom geht unvermindert weiter“, stellt Hubert Barth, Vorsitzender der Geschäftsführung von EY Deutschland, fest. „In diesem Jahr sorgten erneut einige sehr große Deals für einen Investitionsrekord.“ Immerhin sieben Finanzierungsrunden in der Größenordnung von mehr als 100 Millionen Euro wurden im ersten Halbjahr gezählt – mehr als im gesamten Vorjahr, als es insgesamt nur sechs derartige Mega-Deals gab. Erfreulich sei zudem, dass die Zahl der Finanzierungsrunden signifikant gestiegen ist, so dass insgesamt deutlich mehr Jungunternehmen frisches Geld erhielten, so Barth. Dabei wurden vor allem mehr kleine Investitionsrunden im Volumen von maximal fünf Millionen Euro gezählt, die um 34 Prozent auf 264 zulegten. Rückläufig waren hingegen mittelgroße Investitionen zwischen 10 und 100 Millionen Euro – ihre Zahl sank um knapp ein Drittel von 45 auf 31.
„Der Markt verändert sich spürbar“, beobachtet Peter Lennartz, Partner bei EY. „Es ist zwar immer noch enorm viel Geld im Markt, aber wir sehen, dass die Schere zwischen sehr großen und kleinen Deals auseinandergeht. Ausländische Investoren konzentrieren sich auf ausgereifte Geschäftsmodelle und sind bereit und in der Lage, hohe Summen zu investieren. Entsprechend steigt die Anzahl der sogenannten Unicorns und der Start-ups, die als potenzielle Unicorns gelten, was die Attraktivität des Start-up-Standorts Deutschland für internationale Investoren noch weiter steigert. Deutsche Investoren hingegen investieren zumeist eher niedrige Summen und geben so Jungunternehmen Starthilfe“.
Lennartz warnt allerdings: „Sollte sich der Trend zu weniger mittelgroßen Deals fortsetzen, wäre das kein gutes Signal. Denn gerade Investitionen im mittleren Millionenbereich werden benötigt, um aus vielversprechenden Geschäftsideen erfolgreiche Unternehmen zu machen, also das Geschäftsmodell zu etablieren, Skaleneffekte zu erzielen und womöglich sogar eine Internationalisierung einzuleiten. Wenn es weniger mittelgroße Finanzierungen gibt, führt dies früher oder später auch zu weniger Mega-Deals“, warnt Lennartz.
E-Commerce verliert an Attraktivität – FinTech und Mobility legen stark zu
In den zurückliegenden Jahren hatten vor allem E-Commerce-Geschäftsmodelle viel Geld angezogen. Hier scheint sich eine Trendwende vollzogen zu haben: Die in E-Commerce-Start-ups investierte Summe sank von 1 Milliarde Euro im ersten Halbjahr 2018 auf 208 Millionen Euro im ersten Halbjahr. Dieser massive Einbruch konnte allerdings an anderer Stelle mehr als ausgeglichen werden: Vor allem FinTechs, Mobility-Start-ups und Jungunternehmen aus dem Gesundheitsbereich erhielten deutlich mehr Geld als im Vorjahr. An FinTechs flossen 704 Millionen Euro, 78 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Mobility-Start-ups erhielten gut fünfmal so viel Kapital wie vor einem Jahr und belegen mit 659 Millionen Euro im Branchenranking den zweiten Platz vor Software-Unternehmen, die mit 385 Millionen Euro fast exakt so viel Geld einsammeln konnten wie im Vorjahreszeitraum. „Der Fokus der Investoren hat sich verändert“, beobachtet Lennartz. „Wir sehen ein steigendes Interesse an Technologie-Geschäftsmodellen etwa in den Bereichen Mobilität oder Künstliche Intelligenz, aber auch an ganz neuen Geschäftsmodellen wie E-Scooter oder medizinisches Cannabis. E-Commerce scheint hingegen zumindest vorläufig den Zenit überschritten zu haben.“
Drei Viertel des Kapitals fließt nach Berlin
Der mit Abstand größte Deal war die 428-Millionen-Euro-Finanzspritze für das Reise-Start-up GetYourGuide. Auf den Plätzen zwei und drei folgen die Online-Bank N26 (266 Millionen Euro) und das AdTech-Start-up Adjust (201 Millionen Euro). Von den zehn größten Investitionsrunden gingen in diesem Jahr neun an Unternehmen mit Sitz in Berlin; eine ging nach Baden-Württemberg. Auf Berlin entfielen im ersten Halbjahr 41 Prozent der Deals und sogar 76 Prozent des investierten Kapitals.
„Das Berliner Start-up-Ökosystem hat sich im ersten Quartal als sehr stark erwiesen“, stellt Lennartz fest. „Hier stimmen die Rahmenbedingungen auch im internationalen Vergleich, hier werden Trends besonders schnell aufgegriffen und umgesetzt, und längst haben ausländische Investoren Berlin auf dem Schirm. Zwar steigen auch an den anderen wichtigen Start-up-Standorten in Deutschland die Finanzierungsaktivitäten, und in keinem anderen europäischen Land gibt es mehr qualitativ hochwertige Start-up Ökosysteme. Aber die ganz großen Summen gehen bis auf wenige Ausnahmen an Berliner Unternehmen.“
Nachdem im Vorjahr noch ICOs als neue Finanzierungsform in Erscheinung getreten waren, scheint dieser Boom bereits wieder abgeebbt zu sein: Nach 13 ICOs mit einem Volumen von insgesamt 250 Millionen Euro im ersten Halbjahr 2018 gab es in diesem Jahr bislang gerade einmal fünf derartige Transaktionen, die in Summe lediglich fünf Millionen Euro einbrachten.
(Pressemitteilung EY vom 12.07.2019)