Im Fall eines sogenannten harten Brexit sehen sich Unternehmen in Europa mit einer unklaren Rechtslage konfrontiert, die eine Verschärfung des internationalen Steuerwettbewerbs nach sich ziehen könnte. Ein „No-Deal“-Szenario würde Großbritannien vor allem durch die wegfallende Bindungswirkung des Europarechts und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs mehr Gestaltungsspielraum bei der nationalen Steuergesetzgebung bringen. Allerdings hätten sowohl deutsche Unternehmen, die im Vereinigten Königreich investieren, als auch britische Unternehmen, die in Deutschland investieren, dann zunehmend mit steuerlichen Nachteilen zu kämpfen. In Sachen Standortattraktivität könnte sich Deutschland daher zu Steuerreformen gezwungen sehen.
Zu diesen Ergebnissen kommt eine Analyse von Wissenschaftler/innen des ZEW – Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim und der Universität Mannheim sowie von Dr. Sven-Eric Bärsch, Steuerberater und Assoziierter Partner bei der Sozietät Flick Gocke Schaumburg für die Fachzeitschrift „Der Betrieb“. In dem Beitrag werden neben den internationalen steuerlichen Belastungsunterschieden im Status Quo ebenfalls ertragsteuerliche Konsequenzen eines harten Brexit für deutsche Unternehmen aufgezeigt.
Für ihre Betrachtung gehen die Wissenschaftler/innen von einem „No-Deal“-Szenario aus, also davon, dass sich Großbritannien und die verbleibenden EU-Mitgliedstaaten bis zum 31. Oktober 2019 nicht auf ein Austrittsabkommen einigen können, und das Vereinigte Königreich infolgedessen durch den Brexit den Status eines Drittstaats ohne Zugang zum EU-Binnenmarkt und zur Europäischen Zollunion hat. Um die steuerlichen Standortbedingungen in einem Vorher-Nachher-Vergleich feststellen zu können, wurde die Entwicklung der effektiven Unternehmenssteuerbelastung zwischen den Jahren 2009 bis 2017 mithilfe des Simulationsmodells „European Tax Analyzer“ untersucht.
Wettbewerbsbedingungen verändern sich
Im Ergebnis stellen die Wissenschaftler/innen fest, dass Großbritannien bei einem harten Brexit zukünftig von der Rechtsprechung des EuGH sowie vom Beschränkungsverbot mit Blick auf die Grundfreiheiten im EU-Binnenmarkt ausgenommen sein wird. Einerseits entsteht dadurch ein rechtliches Vakuum, was mit Unsicherheiten für Unternehmen verbunden ist. Andererseits hat der britische Gesetzgeber damit die Möglichkeit, schärfere Abwehrgesetze gegen ausländische Unternehmen zu erlassen sowie nationale Branchen und Unternehmen auch einzeln zielgerichtet zu fördern. Zudem ist das Vereinigte Königreich dann nicht mehr an Mindeststandards bei der Bekämpfung von Steuervermeidung gebunden und kann somit flexibler auf veränderte Wettbewerbsbedingungen reagieren.
„All diese Faktoren zusammengenommen, könnten zu einer deutlichen Verbesserung der steuerlichen Investitionsbedingungen Großbritanniens nach dem Brexit führen“, sagt Prof. Dr. Christoph Spengel, ZEW-Forschungsprofessor sowie Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Betriebswirtschaftliche Steuerlehre II an der Universität Mannheim. Hinzu kommt, dass die tarifliche Steuerbelastung für Unternehmen im Vereinigten Königreich mit 19 Prozent ohnehin schon geringer ist als in Deutschland, wo die kombinierte Ertragsteuerbelastung bei etwa 32 Prozent liegt. „Halten die Briten an der geplanten Senkung der Körperschaftsteuer auf 17 Prozent bis zum Jahr 2020 fest, könnte das zusätzliche Investitionsanreize am Standort setzen“, erklärt Spengel.
Kommt der harte Brexit, steht Deutschland unter Zugzwang
Allerdings zeigt die Analyse auch, dass britische Unternehmen durch den Brexit bei ihren Investitionen in den verbleibenden EU-Staaten nur noch unter den Schutzbereich der Kapitalverkehrsfreiheit fallen würden, was mit steuerlichen Nachteilen verbunden sein kann. Etwa besteht für britische Unternehmen ein erhebliches Risiko, dass Dividenden von in Deutschland ansässigen Tochtergesellschaften nach dem Brexit der Quellensteuer unterliegen. Bei Investitionen deutscher Unternehmen im Vereinigten Königreich könnte es wiederum nach einem harten Brexit zur Anwendung der deutschen Hinzurechnungsbesteuerung kommen, was zu steuerlichen Mehrbelastungen führen würde. Sollen schließlich Wirtschaftsgüter vom deutschen Stammsitz eines Unternehmens in die britische Zweigniederlassung überführt werden, gilt nach dem Brexit eine Sofortbesteuerung, was Zins- und Liquiditätsnachteile zur Folge hat. „Unter Umständen kann also die steuerliche Standortattraktivität des Vereinigten Königreichs für sämtliche Investitionsvorhaben deutscher Unternehmen auf der Insel enorm leiden, obwohl der britische Staat weitere Steuersenkungen plant“, erklärt Christoph Spengel.
Für den derzeitigen Hochsteuerstandort Deutschland kann der Brexit nach Ansicht der Wissenschaftler/innen bedeuten, dass eine eigene aktive Steuerpolitik über international abgestimmte Harmonisierungsmaßnahmen hinaus notwendig wird. „Viele EU-Mitgliedstaaten wie zum Beispiel Belgien und Frankreich haben in jüngster Zeit umfangreiche Steuerreformen umgesetzt oder angekündigt. Deutschland hat seine Unternehmensbesteuerung zuletzt im Jahr 2008 reformiert. Sollte der harte Brexit kommen, steht die Politik hierzulande unter Zugzwang“, fasst Christoph Spengel zusammen.
Eine Möglichkeit, die Standortattraktivität Deutschlands aus Unternehmenssicht zu erhöhen, wäre den Wissenschaftlern/-innen zufolge die Einführung einer steuerlichen Förderung von Forschung und Entwicklung (FuE). Mit dem Forschungszulagengesetz wurde die Einführung entsprechender Anreize im Juli 2019 beschlossen, die darin vorgeschlagenen Maßnahmen fallen jedoch deutlich geringer aus als zum Beispiel im Vereinigten Königreich. Dort sind unter anderem Sofortabschreibungen und Steuergutschriften zur FuE-Förderung möglich.
(Pressemitteilung ZEW vom 11.09.2019)