Der Blick zurück zeigt: Trotz technischen Fortschritts, Digitalisierung und Automatisierung hat sich die Produktivität hierzulande im Vergleich zu den 2000er-Jahren halbiert. Diese Entwicklung ist für Deutschland angesichts einer alternden Gesellschaft und einer demnächst stark sinkenden Erwerbsbevölkerung besonders nachteilig, erklären die Studienautoren. Gelinge es nicht, den negativen Produktivitätstrend umzukehren, werde der Standort an Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Wachstum und Wohlstand werden deutlich leiden. Ohne ein Umsteuern wird das aktuelle Trendwachstum der Analyse zufolge von 1,2% pro Jahr bis zum Ende der 2020er-Jahre auf 0,4% sinken.
Wirtschaftswachstum von 2,3 bis 3,4% möglich
Ein höherer Wachstumspfad erfordert wesentliche Fortschritte in den Bereichen Arbeitsmarkt, digitale Ökonomie sowie Innovation und Unternehmensgründungen. Das Potenzial ist groß. Schafft es Deutschland, in diesen Feldern den Rückstand im Vergleich zu den jeweils führenden Mitgliedsstaaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) um die Hälfte zu reduzieren, könnte sich die Wirtschaftsleistung bis 2030 im Durchschnitt auf 3,4% pro Jahr nahezu verdreifachen. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) würde pro Kopf um rund 8.600 € auf 51.600 € zunehmen. Selbst wenn Deutschland nur um ein Viertel aufholt, könnte das Wirtschaftswachstum durchschnittlich auf 2,3% pro Jahr steigen und sich damit zumindest fast verdoppeln. Die Wirtschaftsleistung pro Kopf nimmt in diesem Szenario auf rund 46.700 € zu. Zum Vergleich das Basisszenario: Setzt sich das Trendwachstum von 1,2% fort, liegt das BIP pro Kopf im Jahr 2030 bei rund 43.000 €.
Arbeitsmarkt kann für entscheidende Wende sorgen
Vom Renten- und Gesundheitssystem bis zu Verschiebungen in der Nachfrage nach Immobilien, Konsumgütern und Dienstleistungen: Der demografische Wandel wird zahlreiche Bereiche betreffen. Unmittelbar spürbar wird er auf dem Arbeitsmarkt. Der Fachkräftemangel, der bereits vor der Corona-Krise herrschte und 2021 weiter an Schärfe gewonnen hat, ist ein Vorgeschmack auf den Arbeitsmarkt der 2020er-Jahre, warnen die Studienautoren. Die Automatisierung von Tätigkeiten und Berufen wirke dieser Tendenz zwar entgegen, kann sie aber nicht kompensieren. Ein Gegensteuern sei dringend notwendig, um den demografischen Wandel abzufedern.
Eine Modernisierung des Arbeitsmarktes könnte im Durchschnitt zu einem zusätzlichen jährlichen BIP-Wachstum von bis zu 1,1 Prozentpunkten führen. Mit gezielter Unterstützung einzelner Arbeitnehmergruppen könnten bis zu 2,5 Mio. mehr Arbeitskräfte auf den Arbeitsmarkt kommen. So arbeiten zum Beispiel viele Frauen in Teilzeit – der Blick auf nordeuropäische OECD-Länder zeigt, dass flexible Arbeitszeitregelungen und umfassende Kinderbetreuung für eine deutliche Entlastung sorgen und mehr Vollerwerbstätigkeit ermöglichen. Auch eine höhere Erwerbsquote ausländischer Arbeitskräfte und älterer Arbeitnehmergruppen würde helfen, das Potenzial auf dem Arbeitsmarkt besser auszuschöpfen. Hinzu kommt: Über betriebliche Weiterbildungen können Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sich kontinuierlich für die sich stetig wandelnden Anforderungen des Arbeitsmarktes qualifizieren. Damit verbessern sich die Jobchancen, die Produktivität steigt. Maßnahmen zum lebenslangen Lernen würden Wachstumsimpulse von bis zu 0,3 Prozentpunkten pro Jahr auslösen.
Digitale Ökonomie – Software-Investitionen und rascher Breitbandausbau treiben das Wachstum
Die Digitalisierung wird die künftige Wettbewerbsfähigkeit von Standorten bestimmen. Fortschritte im Bereich der digitalen Ökonomie sind für eine höhere Produktivität entscheidend. Ein Vorankommen erfordert allerdings deutlich mehr private wie öffentliche Investitionen in digitale Infrastruktur und Technologien. Noch viel Potenzial liegt bspw. bei Software und Datenbanken sowie bei Investitionen in Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) brach. Hier ist die Bundesrepublik im OECD-Vergleich weit von der Spitze entfernt. Ein Aufbruch im gesamten Bereich der digitalen Ökonomie kann das BIP-Wachstum um bis zu 0,6 Prozentpunkte pro Jahr erhöhen.
Deutschland muss die Digitalisierung entschlossener angehen und deutlich an Umsetzungsgeschwindigkeit gewinnen, so der Rat der Studienautoren. Ohne signifikante Fortschritte werde die Wertschöpfung sowie das Wachstums- und Beschäftigungspotenzial der digitalen Industrie in Deutschland ungenutzt bleiben. In vielen Branchen werde sich der Rückstand digitaler Technologien bemerkbar machen und die allgemeine Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaft werde darunter langfristig leiden.
In der digitalen Ökonomie verändern sich die Innovationsmuster. Digitale Neuentwicklungen finden vermehrt in Start-ups statt. Allerdings bremsen strukturelle und regulatorische Schwierigkeiten junge Unternehmen hierzulande aus. Mehr Risikokapital-Investitionen und weniger administrativer Aufwand würden einen echten Wachstums-Boost nach sich ziehen: Das Trendwachstum ließe sich allein durch Maßnahmen in diesen beiden Bereichen von 1,2 auf 1,6% steigern.
Ohne Umsteuern geht das aktuelle Trendwachstum bis Ende des laufenden Jahrzehnts stark zurück
Europas größte Volkswirtschaft kann mehr leisten als ein Trendwachstum von durchschnittlich 1,2% im Jahr, so die Einschätzung der Studienautoren. Staat, Wirtschaft und Gesellschaft seien gefordert, die digitale Transformation zu beschleunigen und die ökologische Transformation zügig voranzubringen. Die beste Wachstumsvorsorge ist den Autoren zufolge eine entschlossene Reformpolitik der Ampelkoalition und eine langfristige Strategie. Wie die Weichen in den nächsten Jahren gestellt werden, entscheide über den künftigen Wohlstand des Landes und die Lebensqualität nachfolgender Generationen, aber auch darüber, wie viele Ressourcen zur Bewältigung des Klimawandels bereitstehen. Im Zusammenwirken von wettbewerbsfähigen Rahmenbedingungen und unternehmerischen Strategien kann Deutschland sein volles Potenzial entfalten, so das Fazit der Studienautoren.
Für die Studie „Perspektiven 2030 – Wachstumschancen für Deutschland“ hat Deloitte zwölf Indikatoren in den Bereichen Arbeitsmarkt und Kompetenzen, digitale Ökonomie sowie Unternehmensdynamik untersucht. Dabei wurde für jeden Indikator die derzeitige Position Deutschlands im OECD-Vergleich ermittelt. Anschließend wurden die Wachstumseffekte für zwei Szenarien simuliert: Im sogenannten Beschleunigungsszenario verkürzt Deutschland den Abstand zum Spitzenreiter bei dem jeweiligen Indikator um ein Viertel. Im Aufbruchsszenario nimmt der Abstand um die Hälfte ab. Vergleichsmaßstab für beide Szenarien ist ein Basisszenario. Dieses schreibt das derzeitige Wachstumspotenzial Deutschlands fort.
Die Studie „Perspektiven 2030 – Wachstumschancen für Deutschland“ finden Sie hier.
(Pressemitteilung Deloitte vom 17.05.2022)