Die Investmentbank Bryan, Garnier & Co. hat eine Studie veröffentlicht, die das weit verbreitete Vorurteil einer strukturellen Unterbewertung europäischer Software-Anbieter klar widerlegt: Werden die üblichen Umsatzmultiples EV/Sales (Unternehmenswert / erwarteter Umsatz für das nächste Jahr) ins Verhältnis gesetzt zum durchschnittlichen erwarteten Wachstum über drei Jahre (CAGR), ergibt sich sogar ein Bewertungsaufschlag von 9% (8% im Fall von SaaS-Anbietern), mit dem die europäischen Software-Anbieter im Vergleich zu ihren US-Mitbewerbern gehandelt werden.
Für die Analyse wurde die Entwicklung der Bewertung aller 95 in Europa und 97 in den USA notierten Softwareanbieter zwischen 2006 und 2020 verglichen, für die es historische Analysten-Konsensus-Daten von Refinitiv gibt. Unter diesen Unternehmen sind auch 29 europäische und 67 US-amerikanische SaaS-Anbieter.
Studie widerlegt angeblichen Bewertungsabschlag an Europas Börsen
Bei oberflächlicher Betrachtung der einfachen Umsatzmultiples liegen diese bei den US-Anbietern über die letzten 15 Jahre mit 9,9 deutlich über denen ihrer europäischen Mitbewerber mit nur 5,6. Wenn man jedoch den Börsenwert nicht nur auf Grundlage des einfachen Umsatz-Multiples berechnet, sondern zudem das durchschnittliche Wachstum berücksichtigt (CAGR – hier gleitender 3-Jahres-Durchschnitt der Wachstumsraten des jeweils letzten, laufenden und nächsten Jahres) und Beides ins Verhältnis zueinander setzt, ergibt sich ein ganz anderes Bild, das die Bedeutung der Umsatzerwartung allein an das jeweils nächste Jahr relativiert. (Beispiel-Rechnung: Wenn im April 2021die Salesforce-Aktie mit einem Umsatzmultiple von 10 (10x erwarteter Umsatz 2022) gehandelt wurde und das erwartete durchschnittliche Umsatzwachstum (CAGR) für 2020-2023 bei 20% liegt, ergibt sich ein Verhältnis von 10 / 0,2 / 100 und die neu ermittelte Kennzahl liegt bei 0,50.)
Börsenerfolg unabhängig von gewähltem Börsenplatz
Diese Rechnung wurde für die letzten 15 Jahre bis April 2021 durchgeführt und kommt zu dem überraschenden Ergebnis, dass die in Europa notierten Unternehmen sogar höher bewertet sind, als die an NASDAQ und NYSE gehandelten Softwareanbieter. Für die Europäer ergibt sich dann eine durchschnittlich um 9% höhere Bewertung als bei ihren US-Mitbewerbern. Das gleiche Prinzip für einen Untersuchungszeitraum von vier Jahren speziell auf die 29, bzw. 67 (US) gelisteten SaaS-Anbieter angewendet, kommt fast zu dem gleichen Ergebnis: Hier beträgt der durchschnittliche Aufschlag 8%.
Dieses Bild kommt der Realität der Börsenbewertung deutlich näher, stellen die Autoren der Studie fest. Denn durch diese Gewichtung mit der durchschnittlichen Wachstumsrate werden die Multiples normiert und somit die Bedeutung der kurzfristigen Wachstumserwartung für ein einzelnes Jahr relativiert.
Über die Bewertung entscheidet nicht der Börsenplatz
Die Analyse zeigt auch, dass die Unterschiede in der Einzel-Bewertung von in Europa notierten Softwareanbietern weitaus höher sind als die ihrer US-Wettbewerber. Die große Streuung lässt sich weder durch eine signifikante Anzahl von Verlustunternehmen unter den europäischen Softwareanbietern noch durch die Liquidität ihrer Aktien erklären. Entgegen einem weiteren gängigen Vorurteil seien die am höchsten bewerteten europäischen Software-Aktien keineswegs immer die liquidesten und notierten auch nicht unbedingt an den liquidesten Märkten, betonen die Studienautoren.
Reifegrad der Unternehmen vor dem Börsengang sehr unterschiedlich
Stattdessen erklären die Experten von Bryan, Garnier & Co. die Heterogenität der Bewertung der untersuchten europäischen Software-Anbieter mit ihren sehr unterschiedlichen Geschäftsmodellen und Erfolgsbilanzen sowie der jeweils gelebten Corporate Governance. Vor allem sei der Reifegrad der europäischen Unternehmen sehr unterschiedlich, während US-Unternehmen vor einem Börsengang fast immer einen langen Reifeprozess mit zahlreichen Finanzierungsrunden hinter sich haben.
Geschäftsmodell und Management, Reifegrad und Erfolgsbilanz bestimmen die Bewertung
Laut der Studienautoren wird damit klar, dass der Börsenplatz nicht entscheidend ist für die Bewertung eines Software-Unternehmens. Es gehe allein um die Qualität von Geschäftsmodell und Management, Reifegrad und bisherige Erfolgsbilanz. Das sei eine wichtige Erkenntnis, denn für Europäer sei ein Börsengang in den USA in der Regel mit vielen Schwierigkeiten verbunden. Wenn der Börsenerfolg europäischer Softwareunternehmen letztlich unabhängig ist vom gewählten Börsenplatz, spricht nach Einschätzung der Studienautoren nicht das Geringste gegen einen IPO an einer europäischen Börse.
(Pressemitteilung Bryan, Garnier & Co. vom 26.05.2021)